Mit all dem Wissen im Hinterkopf starte ich Ende Juli 2023 zu der ambitionierten Radtour. Mein Schwager Kurt, mit dem ich zuvor schon einige Radtouren unternommen habe, ist wieder mit dabei. Der Wetterbericht hat für die nächsten Tage stabiles Hochdruckwetter gemeldet und ich habe ausreichend Trainingskilometer in den Beinen. Von vielen anderen Pass-Fahrten weiß ich, dass ich die Anforderungen durchaus bewältigen kann, wenn nur die äußeren Verhältnisse stimmen und ich im niedrigen Tempo- und Pulsbereich bleibe. Auf der langen Autobahnfahrt in die französische Provence überwiegt daher die Vorfreude gegenüber den Bedenken. Gegen Abend erreichen wir den Campingplatz „La Pinede“ in dem Städtchen Bédoin und bauen unter schattigen Kiefern unser kleines Zelt auf, in das wir uns schon recht früh verkriechen. Das monotone Zirpen der Zikaden wiegt mich in einen unruhigen Dämmerschlaf. Um sechs Uhr piepst die Armbanduhr. Der Morgen begrüßt uns mit einem blanken Himmel und angenehm warmen Temperaturen - perfekte Bedingungen für unsere Tour auf den großen Berg. Nach einem schnellen Kaffee und einer Schale Müsli geht es auch schon los, denn wir wollen möglichst vor der größten Mittaghitze wieder zurück sein. Die ersten sechs Kilometer geht es mit vier, fünf Prozent noch gemütlich durch die Felder und Weingärten, bis wir den Waldrand am Fuß der Südflanke des Ventoux erreichen. Ansatzlos wird die Straße neun, zehn Prozent steil und diese Steilheit wird auf den nächsten acht Kilometern auch nicht abnehmen. Ich habe keinerlei Skrupel, sofort den kleinsten Gang einzulegen. Mit meiner Ultegra-Kompaktschaltung - minimal 34 Zähne vorne und maximal 34 Zähne hinten - komme ich ohne große Anstrengung und in einem guten Rhythmus voran. Dafür ist mein Tempo allerdings auch unterirdisch: 8, 7, 6 km/h – mehr ist heute bei dem alten Mann nicht drin. Mein durchtrainierter Begleiter Kurt ist damit freilich völlig unterfordert. Er vertreibt sich die Zeit damit, immer mal ein Stück voraus zu fahren und dann wieder zu mir hinab zu rollen. An dieser Stelle muss ich mich für seine solidarische Fahrgemeinschaft noch mal bedanken. Gemeinsam macht es einfach mehr Spaß! Außer uns beiden sind heute, an einem normalen Werktag, noch viele andere Radler unterwegs: Etliche „sportive, ältere Herren“ wie ich, viele E-Biker, aber auch richtige Cracks, die den Berg nur so hinauffliegen. Die ganz unterschiedlichen Leistungsniveaus, aber auch Ambitionen werden deutlich sichtbar. Bei all den Superlativen, die der Berg und der heutige Tag bieten, habe ich selbst auch einen Rekord zu vermelden: bestimmt bin ich heute mit Abstand der langsamste Fahrer, der hier mit dem Velo hoch will. Und das ist voll in Ordnung so. Meine Devise heißt Ankommen und dabei, soweit möglich, noch etwas Spaß haben. Als wir nach 14 Kilometern das Chalet Reynard erreichen, wird es mit nur noch 6 % für kurze Zeit etwas flacher und damit entspannter. Bald lassen wir die Baumgrenze hinter uns und sind inmitten der öden Geröllwüste, die aus der Ferne so schön weiß leuchtet, aus der Nähe aber an eine leblose Mondlandschaft erinnert. Es wird wieder steiler und jetzt wird es auch für mich richtig hart. Nicht weil die Kraft fehlt oder das Atmen schwerfällt. Nein, das stundenlange, immer gleichförmige Treten verursacht in meinen abgenutzten Knie- und Hüftgelenken stechende Schmerzen, die auch nicht mehr verschwinden. In der Hoffnung, es bald bis nach oben geschafft zu haben, lassen sie sich leidlich aushalten.