Versicherte Stelle am Jubigrat | © Holger Koch

Sportkletterer auf Abwegen

„Achtung, diese Stelle hier ist schwer!“ sage ich, und zwar zu schwer, um noch richtig zu sein, denke ich. Diese Befürchtung hatte ich schon etwas länger gehabt. Mehrmals haben wir bei der Vorbereitung gelesen, dass nicht die Kletterschwierigkeit, sondern die Orientierung das größte Problem in der Wand ist. Mein Orientierungssinn war bislang immer sehr gut, hatte ich dabei vielleicht etwas überheblich gedacht. Das werden wir schon finden! Aber jetzt sind wir mitten in der Wand und es ist klar: Wir haben uns verklettert!

Watzmann-Ostwand

Eigentlich ein Jugendtraum von mir, hatte ich als Sportkletterer die Watzmann Ostwand komplett aus dem Fokus verloren. Ich war in den letzten Jahren zwar viel in den Alpen unterwegs gewesen, aber nicht zum klassischen Bergsteigen. Erst als Magdalena sich wünschte, auf Deutschlands höchsten Berg zu steigen, war ich zunächst überrascht, fügte dann aber begeistert den Watzmann hinzu. Und jetzt sind wir hier, mittendrin in der Gipfelschlucht, die übrigens nur so heißt und nicht zum Gipfel führt. An deren Beginn hätten wir deutlich nach rechts queren müssen, aber in meinem Aufwärtsdrang ist diese Querung etwas zu kurz geraten. Jetzt sind wir nicht mehr im leichten Gelände, sondern auf glatt geschliffenen Platten deutlich schwieriger unterwegs, auch schwieriger als zuvor in der ersten Schlüsselstelle, der "Wasserfallwand". Unter der hatten wir ausgiebig Pause gemacht, um zu warten, bis die anderen Seilschaften mit genügend Sicherheitsabstand voraus waren. Wir haben uns gegen Seil und Gurt entschieden und warten deshalb lieber etwas länger, um keinen Steinschlag zu riskieren. Dadurch haben wir natürlich auch den Sichtkontakt zu unseren schnellen Pacemakern verloren, die direkt ab der Bootsanlegestelle in St. Bartholomä mit Vollgas Richtung Eiskapelle durchgestartet sind. Schon bei der Überfahrt mit dem obligatorischen Trompetensolo versuchten wir die Ostwand Aspiranten zu erkennen und deren Ambitionen einzuschätzen. Hätte mich die Konkurrenz in einer Mehrseillängen-Route eher abgeschreckt, sah ich hier eindeutig den Vorteil für die Wegfindung und zu eng würde es in der Wand sicherlich nicht werden. Unser Zeitplan war ein wenig unter Druck geraten, weil das Ostwand-Lager wegen Sturmschäden geschlossen war. So hatten wir das erste Boot nehmen müssen und dadurch leider zwei Stunden Zeitpuffer verloren für unser Ziel, abends wieder am Auto zu sein.

Dementsprechend brennt die Sonne jetzt schon ordentlich, als wir den Wald hinter uns lassen und an der Eiskapelle vorbei zwischen den steilen Latschen aufsteigen. Unsere vermutlich ortskundigen Tempomacher sind bereits ein Stück voraus, deshalb schwitzen wir lieber, anstatt anzuhalten und etwas auszuziehen. Die Herzfrequenz ist ähnlich hoch wie bei einem Speed-Metal-Stück, aber wir schaffen es, den Anschluss zu halten und kommen so ziemlich schnell durch diesen ersten Teil der Wand bis zum Schuttkar. Hier ist üblicherweise Trink- und Auffüllpause, und als sich unsere Herzfrequenz etwas beruhigt hat, sind die Anderen schon unterwegs Richtung Wasserfallwand, an der wir sie dann endgültig ziehen lassen und auch nicht mehr wieder sehen werden.

Mit der Erkenntnis, dass wir am rechten Rand der Gipfelschlucht hätten aufsteigen müssen, scanne ich den weiteren Verlauf und entdecke weiter oben eine Stelle, an der wir hoffentlich nach rechts raus queren können. Wenn auch etwas heikel und brüchig kommen wir so wieder zurück auf Spur Richtung Biwakschachtel, die wir ohne weitere Verhauer erreichen, kurz inspizieren und dort eine weitere Pause einlegen. „70 m nach dem Biwak Linksquerung in eine brüchige Rinne“ habe ich die Beschreibung gut im Kopf, aber irgendwie passt das gar nicht mit der Realität zusammen. Ich habe bereits ein paar Varianten ausprobiert und befinde mich schon wieder in viel zu schwerem Gelände, als hinter uns eine weitere ortskundige Seilschaft auftaucht und uns die brüchige „Rampe“ (neben der schneegefüllten Rinne) hinauf mit auf den richtigen Weg in die Ausstiegskamine nimmt. Im Schatten und in schöner Kletterei geht es weiter zum „8-Meter-Wandl“, der nominell zweiten Schlüsselstelle, und weiter zum Südgipfel, den wir um 14:20 Uhr bei bestem Wetter erreichen.

Für den Abstieg haben wir uns gegen den „langweiligen“ Weg durch das Wimbachgries entschieden. Wir wollen noch die Überschreitung zum Watzmannhaus dranhängen, um wieder direkt nach Schönau zurück zu kommen, was sich auf knapp 2.300 Höhenmeter summieren wird. Der befürchtete Gegenverkehr (es ist Sonntag und nur für Heute gutes Wetter angesagt) bleibt glücklicherweise aus, so dass wir den teilweise mit Drahtseilen versicherten Grat zügig hinter uns bringen. Nachdem wir den Mittelgipfel und das Hocheck passiert haben, geht es in den langen und karstigen Abstieg zum Watzmannhaus. Liebend gerne würde ich mich jetzt dort mit Kaffee und Kuchen auf der Terrasse niederlassen, aber das lässt unser Zeitplan leider nicht zu. Mittlerweile hat es sich auch zugezogen und ein ordentlicher Schauer lässt den schönen Falzsteig rüber zur Kührointalm ordentlich glitschig werden. Die vielen Höhenmeter machen sich langsam in den Oberschenkeln bemerkbar und leider habe ich auch meine leichten Approachschuhe bislang noch nicht auf großer Tour getestet. Mein linker kleiner Zeh tut schon so weh, dass ich kaum noch auftreten kann, und die letzten Höhenmeter, an der vom Unwetter zerstörten Bobbahn entlang zurück zum See, gehe ich mittlerweile überwiegend rückwärts, um so den Zeh zu entlasten. Noch bei Tageslicht erreichen wir 13 Stunden nach Besteigen des Bootes, kaputt aber happy, wieder den Ausgangspunkt und stoppen direkt an der ersten Bank am See, um unsere schmerzenden Füße abzukühlen.

Stopselzieher-Klettersteig und Jubiläumsgrat

Da uns das einzige Schönwetterfenster gezwungen hatte, die Durchsteigung der Ostwand auf unseren ersten Urlaubstag zu legen, haben wir jetzt ein paar Tage Zeit, um unseren Muskelkater zu pflegen, bevor wir uns unserem nächsten Klassikerziel widmen. Leider bleibt das Wetter aber durchwachsen. Es gibt sogar einen Wettersturz mit starkem Schneefall an der Zugspitze, so dass wir uns trotz regenerierter Beine erstmal am Untersberg und an der Waidringer Steinplatte mit Sportkletterrouten beschäftigen. Dort gefällt es uns auch sehr gut, aber als der Wetterbericht wieder einen stabilen Tag an der Zugspitze vorhersagt, fahren wir weiter nach Garmisch. Obligatorisch ist für uns ein Stopp in Ellmau, als ausgemachte Bergdoktor-Fans können wir uns einen Besuch des „Wilden Kaiser“ und der Bergdoktor-Praxis natürlich nicht entgehen lassen.

Von Garmisch bzw. Ehrwald aus wollen wir über den „Stopselzieher“ Deutschlands Höchsten in Angriff nehmen. Wir starten mit Stirnlampen um 04:30 ab Parkplatz Ponöfen unterhalb der Tiroler Zugspitzbahn. Der Weg verläuft zunächst auf einer Skipiste und ohne Probleme mit der Wegfindung kommen wir schnell voran, so dass wir bereits gut 1,5 h später vor der Wiener Neustädter Hütte stehen. Es ist ziemlich kalt, daher nur eine kurze Trinkpause, dann geht es direkt weiter zum Einstieg des Stopselzieher Klettersteigs. Bald geht es durch ein spektakuläres Felsenloch, aber immer ohne besondere Schwierigkeiten zunächst entlang der Drahtseile und später auf einem Pfad zur Bergstation der Seilbahn und weiter zum Münchner Haus, das wir um 07:15 Uhr erreichen. Hier im offenen Gelände weht jetzt ein richtig heftiger Wind, der mich zweifeln lässt, ob wir den Jubiläumsgrat überhaupt weitergehen können. In den GoPro Videos auf YouTube sahen einige Passagen doch so ausgesetzt aus, dass man da lieber ohne böigen Seitenwind unterwegs sein möchte. Auch unsere einzigen Mitstreiter, zwei junge Kerle, zweifeln noch und checken den Wetterbericht. Schlimmer soll es zumindest nicht werden, so dass sie sich entschließen, es zu wagen. Obwohl wir nicht viel getrunken haben, gehen wir erstmal in die pompöse Bergstation, um eine windgeschützte Pause zu machen. Wir irren durch den, vor der ersten Bahn noch völlig ausgestorbenen modernen Betonbau, bis wir endlich die Toilette finden, um Wasser aufzufüllen. Nachdem wir uns aufgewärmt haben, gehen wir rüber zum Gipfelkreuz. Und ohne Schlange stehen zu müssen, machen wir allein unsere Gipfelfotos und gehen dann einfach weiter in der Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm sein wird mit dem Wind. Auf dem Jubigrat geht es dann erstmal bergab und in der Ferne sehen wir noch die zwei Jungs, die schnell und komplett ohne Rucksack unterwegs sind. Überhaupt, die Sicht ist super und unten im Höllental sehen wir die Aspiranten an der Gletscherkluft Schlange stehen und sind froh, einen anderen Weg gewählt zu haben. Die meisten Höhenmeter haben wir zwar schon erledigt, aber der Großteil der Strecke liegt noch vor uns. Das Gelände ist aber angenehm zu gehen und die Ausgesetztheit an manchen Stellen macht uns nichts aus, so dass wir gut vorankommen - denken wir zumindest. Aber es nimmt kein Ende, immer wieder rauf und runter und rum oder rüber, es zieht sich, aber verklettern kann man sich hier nicht. Um 10:45 Uhr erreichen wir die Biwakschachtel. Knallrot und auch von innen ganz nett und aufgeräumt lädt sie ein zum Pause machen. Nur zwei Personen sind uns bislang entgegen gekommen, die hier übernachtet haben, das Wetter war nämlich noch ziemlich schlecht gestern. Wir sind mittlerweile ganz euphorisch, es ist etwas wärmer geworden, wir sind so gut wie allein auf dem Grat, die Ausblicke sind phantastisch und auch der Wind macht uns keine größeren Probleme. Ab und zu bläst er zwar ordentlich, aber das gehört in den Bergen schließlich dazu.

Nach einigen weiteren Aufs und Abs mal mit und mal ohne Stahlseil weist uns endlich ein Schild die Abzweigung zur Grießkar Scharte. In dieser wird es dann plötzlich nebelig und unser Orientierungsvermögen doch noch auf die Probe gestellt. Aber wir finden die Wegspuren, auf denen es ein letztes Mal nach oben Richtung Alpspitze geht, dem offiziellen Ende des Jubiläumsgrats. Nach knapp 9 Stunden Kletterei um 13:20 Uhr können wir uns dort den finalen Gipfelkuss geben. An diesem Gipfelkreuz sind wir jetzt nicht mehr allein und fürs Foto braucht man Mut zur Lücke. Dem Rummel wollten wir eigentlich schnell entfliehen, kommen beim Abstieg aber eher vom Regen in die Traufe. Als wir in den Klettersteig, die Nordwand-Ferrata, einsteigen wollen, starren uns gefühlt Tausend Gesichter entgeistert an, wie wir es wagen können, hier in der Gegenrichtung unterwegs zu sein. Auf der kompletten Strecke scheint Stau zu sein, wir passieren einen Vater mit seiner ca. 12 jährigen Tochter, danach Stau, Stau, Stau.

Bislang haben wir die Klettergurte nicht gebraucht, jetzt brauchen wir gar nicht mehr daran zu denken, zwischen all den Menschen Karabiner ein- und ausklinken. Irgendwie frei kletternd und ins Stahlseil greifend kommen wir um die Menschen drum herum, dabei bleibt die Stimmung in beide Richtungen freundlich gesinnt, obwohl sich einige doch deutlich wundern, dass man hier auch runter klettern kann und wo wir wohl herkommen. Ich würde es um diese Tageszeit auch nicht noch einmal so machen. Aber nachdem wir diese letzten gut 600 Höhenmeter Stahlseil hinter uns gebracht haben, laden herrliche grüne Wiesen ein, dem Körper und der Psyche eine wohlverdiente Pause zu gönnen.

Im Prinzip hätten wir jetzt sogar noch genug Zeit, die ganze Tour bei „Fair Means“ zu Ende zu bringen und auch die letzten ca. 1.200 Höhenmeter bergab vom Osterfelderkopf abzusteigen, aber wir sind auch so zufrieden und nehmen einfach die Seilbahn. Unten steigen wir in den hübschen historischen, aber leider falschen Zug Richtung Eibsee, so dass wir noch einmal zu Fuß den Bahnhof wechseln müssen. Und nachdem wir auch die letzten zwei Kilometer von Ehrwald zurück zum Auto geschafft haben, können wir nach 12,5 Stunden endlich die Schuhe ausziehen und ein erfrischendes Bier aufmachen.

Das waren zwei alpinistische Highlights, die selbst uns Sportkletterern richtig Spaß gemacht haben, so dass wir für den nächsten Sommerurlaub schon auf der Suche nach neuen klassischen Zielen sind.

 

Magdalena und Holger Koch. Berg Heil!